Natalie fotografiert seit ihrer Jugend, immer auf der Suche nach dem einen großen Thema. In einer Einführung für Soziologie hatte sie einen echten Aha-Moment und ihren Traum vom Fotodesign-Studium vorerst beiseite geschoben.

Die Jahre im Job war die Kamera nur Ausgleich und Überlebensstrategie im Alltag. Bis Corona kam und ihre Kampagne FACES OF MOMS alles zusammenbrachte: Elternschaft, Care-Arbeit, soziologische Theorie und fotografische Praxis. Das eine große Thema, das sie von jetzt auf gleich in die Fotografie-Szene katapultierte.

Heute dokumentiert sie mit Sandsack Fotografie Familien und Brands, hält Workshops und wirkt an Ausstellungen mit.

Wie geht es dir, wie kommst du hier an?

Ehrlich gesagt fühle ich mich gerade ziemlich gestresst. Es sind Schulferien, und ich versuche die ganze Zeit, wirklich mal abzuschalten – und merke dabei, dass ich es einfach nicht schaffe. Einerseits wehre ich mich total dagegen, andererseits spüre ich, wie tief dieser ganze kapitalistische Hustle-Modus in mir drinsteckt.

Ich bin Mutter von zwei Kindern und ich wünsche mir einfach mal ein bisschen weniger Druck, weniger Funktionieren-Müssen. Gleichzeitig weiß ich, dass ich aus dieser Spirale nicht einfach so herauskomme.

Ich glaube, das ist auch etwas, womit ihr euch in eurer Arbeit beschäftigt – dieses permanente Spannungsfeld zwischen dem, was als "professionell" gilt, und dem, was eigentlich menschlich wäre.

Wer bist du als Mensch?
Was macht dich aus?

Ich hatte im Juni eine Ausstellung in München und habe im Umgang mit den anderen teilnehmenden Fotografinnen gemerkt, dass ich voll der Community Mensch bin. Ich liebe es mich mit anderen zu umgeben, Energie aus ihrem Dasein zu ziehen, mich auszutauschen über Kunst und andere Themen.

Es gibt so viele Dinge, die mich begeistern, bei denen ich dann auch wirklich voll am Start bin. Und gleichzeitig verliere ich dann auch oft den Fokus und den Blick auf das, was ich brauche. Während viele Selbstständige ihren Fokus bewusst auf eigene Sichtbarkeit, Umsatz und Strategie legen, zieht es mich immer wieder in den gemeinschaftlichen Austausch. Das ist einerseits wunderschön, aber eben auch herausfordernd. Und dann ist da noch dieser starke innere Kompass: Ich kann Ungerechtigkeit und Ungleichheit nur schwer aushalten. Das begleitet mich und treibt mich an.

how do we realize
that we are asking
the wrong questions?

Was bedeutet es für dich selbstständig zu sein?

Grundsätzlich ist die Selbstständigkeit genau die Form von Lohnarbeit, die am besten zu mir passt. Gerade weil innerhalb unserer Familie Neurodivergenz den Alltag bestimmt, brauche ich diese Flexibilität. Gleichzeitig bedeutet das aber auch, dass ich ständig zwischen Care-Arbeit und dem Versuch, meine beruflichen als auch freien Projekte irgendwie auf die Reihe zu kriegen, jonglieren muss. Es ist wahnsinnig herausfordernd. Für mich existiert diese eine „Vereinbarkeit“ nicht.

Dabei ist auch der Umgang mit Geld für mich stark emotional aufgeladen. Es fühlt sich selten neutral an Geld zu verdienen und höhere Summen zu verlangen. Es blockiert mich, weil ich viel Geld verdienen muss, damit ich mir diese Selbstständigkeit und dieses Leben leisten kann und gleichzeitig hasse ich es im Kapitalismus zu leben. Gerade in der Selbstständigkeit, in der finanzielle Stabilität eine Grundvoraussetzung ist, kann das schnell zur Belastung werden.

Mir war nicht bewusst, dass die Selbstständigkeit als auch das Mutterwerden so viel mit der eigenen Persönlichkeit macht und versteckte Glaubenssätze ans Tageslicht holt. Heute bin ich an einem ganz anderen Punkt als vor fünf Jahren. Ich kann jetzt sagen, ich bin Fotografin und Teile meiner Fotografien sind vielleicht sogar Kunst. Und doch sind es am Ende meist immer dieselben, die sichtbar sind und die verkaufen.

Ich sehe, wie andere mit ganz anderen Voraussetzungen starten – etwa mit einem unternehmerischen oder wohlhabenderen Elternhaus im Rücken. Für sie ist wirtschaftliches Denken selbstverständlich, fast „natürlich“. Kapitalismus als Spielfeld, auf dem sie sich sicher bewegen. Und ich? Ich frage mich oft, was ich davon eigentlich verstehen will. Für mich hat wirtschaftlicher Erfolg selten mit individuellem Können oder Glück zu tun – sondern vielmehr mit Herkunft, mit dem, wie du sozialisiert wirst. Und auch mit der Art, wie Gesellschaft auf dich blickt und dich einordnet.

it makes me angry
that we can’t get beyond this visibility debate.

Was macht dich wütend?

Mich macht wütend, dass die Mehrheit aller Menschen immer noch davon ausgeht, dass man etwas nur genug wollen muss, um es zu schaffen.

Mich macht wütend, dass ich das Gefühl habe, ich müsste mich dafür rechtfertigen, dass das, was ich tue ein legitimer Lebensentwurf ist. Ich bekomme irgendwie ständig Anfragen, wie „Hey, ich brauche eigentlich nur drei Fotos. Kannst du das mal schnell machen? Ich habe auch nur 50 EURO." Auch von öffentlichen Stellen.

Man könnte meinen, es wäre offensichtlich, dass ich von meiner Arbeit leben muss. Aber genau das wird oft nicht mitgedacht. Sich davon zu emanzipieren – also von diesem ständigen Unterbietungsdruck – ist alles andere als einfach. Denn da draußen gibt es immer zehn andere, die dieselbe Anfrage annehmen, weil sie auf Follower*innen hoffen, auf Reichweite, auf den nächsten Push für ihre Marke.

Dieses System ist einfach so abgefucked.

Es ist gleichzeitig so krass zu wissen, wie viele Dinge, du entweder selbst bezahlen (Rente, Krankenversicherung etc.) oder selbst machen musst. Wie soll man es schaffen alles in einer Person zu vereinen... Marketing, Vertrieb, Fotografie? Das ist etwas, was mich wütend macht und worüber auch einfach zu wenig gesprochen wird. Auch auf Instagram.

Am Ende bleibt nur diese eine Erzählung übrig: Natalie, die hier eine Ausstellung hat und dort ein Projekt zeigt – alles irgendwie erfolgreich, aber in Wirklichkeit auch oft un(ter)bezahlt. Und das sieht niemand. Wie kommen wir aus diesem Strudel heraus? Wie schaffen wir es, zu erkennen, dass wir uns die falschen Fragen stellen? Dass wir uns eigentlich verbünden müssten – es aber nicht können, weil wir alle zu erschöpft sind?

Mich macht wütend, dass wir über diese ständige Sichtbarkeitsdebatte nicht hinauskommen. Viele FLINTAs versuchen in der Selbstständigkeit, die Unvereinbarkeit ihrer Lebensrealitäten irgendwie zu balancieren – zwischen Care-Arbeit, Kunst, Existenzsicherung. Und zu viele geben wieder auf, weil es einfach zu teuer, zu unsicher und letztlich ein verdammtes Privileg ist.

Genau das ist doch der Punkt: Wer darf überhaupt selbstständig sein? Wer darf fotografieren? Wer darf Kunst machen – wirklich, langfristig, ohne sich selbst dabei zu verlieren? Es sind oft wieder nur die 1 %, die ohnehin schon den Zugang zum Markt haben, die Netzwerke, das Kapital. Das sind Machtstrukturen, die wir als Einzelne nicht aufbrechen können – und die politisch kaum je verhandelt werden.

Und ja, das kotzt mich an.

i would like us to learn to let people tell their stories and to acknowledge them.

Was gibt dir Hoffnung?

Hoffnung gibt mir tatsächlich Community und Community Building. Genau deshalb mache ich das auch – um mehr Menschen zu erreichen und ihnen diese wichtigen Fragen zu stellen. Ich glaube fest daran, dass wir uns nicht in Einzeldebatten verlieren sollten, sondern immer wieder die systemischen Fragen in den Mittelpunkt rücken müssen. Warum denken wir eigentlich nur darüber nach, wie wir im Kapitalismus überleben können? Es ist ja nicht so, dass die Welt entstanden ist und mit ihr der Kapitalismus da war. Das ist das Faszinierende an Soziologie – und eben auch an Fotografie: diese Fragen auch zu stellen und nicht nur sichtbar zu machen. Gemeinschaft gibt mir definitiv Hoffnung. Gleichzeitig ist das aber auch ein großes Privileg.

Was können wir jetzt tun, um wirklich etwas zu verändern?

Für mich ist das vor allem: solidarisches Handeln nicht nur als abstrakte Idee zu verstehen, sondern als gelebte Praxis. Ich wünsche mir, dass wir lernen, Menschen ihre Geschichten erzählen zu lassen – und diese anzuerkennen. Ohne sofort zu antworten mit „Ja, aber anderen geht es viel schlechter“ oder „Mach doch das und das, dann wird alles besser“. Diese Art von Aushalten und Solidarität hätte ich mir oft gewünscht. Das schafft einen Resonanzboden, auf dem wir nebeneinander stehen können – auch wenn unsere Geschichten, unsere Herkunft, unsere Diskriminierungserfahrungen und unser Leben ganz unterschiedlich sind.

DANKE NATALIE! FÜR DIESES WICHTIGE GESPRÄCH , DEIN FRAGEN-STELLEN UND SEIN.

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Martha Strobel